Kaum eine Woche nach der Entlassung begann alles von vorne.
Wie schon vor der letzten Krankenhauseinweisung: wieder Stürze.
Diesmal noch häufiger, noch unsicherer. Dazu diese merkwürdige Sprache, abgehackt, verworren – als würde er manchmal neben sich stehen.
Die Atemnot war heftig, schwer und hörbar. Ich sah, wie sehr er kämpfte, und gleichzeitig war klar: das System war überfordert. Für den Arzt galt er als „verbessert“, im Entlassungsbericht stand nichts über die Lungenentzündung, kein Wort darüber, ob sie ausgeheilt war oder nicht.
Zu Hause aber war nichts besser. Pflegedienst, Schriftverkehr, Anträge – all das lief, aber im Alltag wurde er immer schwächer. Ich war wachsam wie nie, jeder Schritt, jede Bewegung war ein Risiko.
Und während ich versuchte, irgendwie Struktur in diesen Wahnsinn zu bringen, wusste ich im Innersten schon: Wir sind am Rand.
Kämpfe, Gespräche – Gesprächsversuche – Krankenhaus, Patientenfürsprecher, Pflegedienst etc.
Dann kam dieser Dienstag, der 12. August.
Zweimal war der Hausnotruf in kurzer Zeit da. Einmal hatte ich Glück, war zu Hause, konnte reagieren, mit auffangen, mit organisieren. Aber beim zweiten Mal war ich nicht da. Ausnahmsweise, und ausgerechnet an diesem Abend. Ich hatte mir etwas gegönnt: einen Qigong-Abend, mit Handpan, mit Musik, mit Lachen.
Gott sei Dank war Torsten da, mein Mann. Hat Manni hochgeholfen, mit dem Hausnotruf gesprochen, versucht Dinge in die Wege zu leiten, Manni zu helfen.
Am Mittwoch, dem 13., schien es erst wieder etwas besser. Ich war bei ihm, habe nach ihm geschaut, ihn unterstützt, vernebelt, versorgt – unsere kleinen Rituale, unser Alltag zwischen Fürsorge und dem Versuch, Normalität aufrechtzuerhalten.
Auch am Donnerstagmorgen, dem 14., war er ok, hat sich versorgt, sogar mit Mesi zusammen. Es wirkte fast normal.
Mittags war dann seine Ilona, vom Pflegedienst da. Mit einem neuen Kollegen, der dachte, er könne mit Mesi ein Gespräch führen. Ich hab Mesi und seine Bellerei gehört. Bin hingerannt und erst mal dafür gesorgt, das Mesi ins Häuschen gehen kann.
Manni war total atemlos, stand über seinen Rollator gebeugt im Flur und hat um Atem gerungen. Ilona hat ihm geholfen, er hat sich beruhigt und ich hab sogar Lachen zu mir rüber schallen hören.
Und dann kam der Donnerstagabend.
Ich war draußen im Garten, beim Gießen. Und während ich dort stand, hörte ich plötzlich dieses schwere, laute Atmen. Ungewöhnlich, auffällig. Ich hielt inne, lauschte, unsicher, ob ich mich täuschte.
Vielleicht wollte ich es nicht wahrhaben. Wenige Minuten später – ich weiß nicht, ob es zehn oder fünfzehn waren – sind Torsten und ich zu Manni gegangen. Durch Job und gießen waren wir später dran und es war Zeit, das Abendessen für Manni vorzubereiten.
Und haben ihn gefunden und sind maßlos erschrocken.
Er lag im Rollator gekippt, halbsitzend, als hätte der Körper einen letzten Versuch gemacht, sich aufzurichten. Kein Atem mehr. Keine Bewegung. Nur eine tiefe Stille.
Aber ein ganz friediches, entspanntes Gesicht. Das ist mir als 1. aufgefallen.
Merkwürdig, worauf sich unser Gehirn in Krisenzeiten fokussiert.
Wir riefen den Rettungsdienst, begannen sofort mit der Reanimation. Minuten später waren die Sanitäter da, kurz darauf auch der Notarzt. Alles lief wie im Lehrbuch – schnelle Handgriffe, professionelle Abläufe. Doch inmitten dieser Versuche, sein Herz zurückzuholen, spürte ich es deutlich: Es gibt kein Zurück mehr. Nicht für Manni.
Nach einigen Momenten sprach ich es laut aus: „Lasst ihn gehen. Lasst ihn friedlich gehen.“
Manni hatte seine Entscheidung schon getroffen. Es gab kein Zurück mehr.
Die Sanitäter legten ihn behutsam wieder in sein Bett, sorgsam, fast zärtlich. Dafür war ich in diesem Moment unendlich dankbar.
Und dann begann der andere Teil dieser Nacht. Papierkram, Telefonate, Fragen. „Wen muss ich anrufen? Wie geht es weiter?“ Ich fühlte mich wie in einem Nebel, stand nur da, verwirrt, unfähig, wirklich klar zu denken. Zum Glück fiel schnell der Name Jutta Schäfer – unsere Bestatterin, die uns schon bei Elsii begleitet hatte.
Doch vorher musste ein Arzt kommen. Unsere Hausärztin war im Urlaub, also sollte der Amtsarzt gerufen werden. „Das kann dauern“, hatte man mir gesagt. Und so irrte ich draußen im Garten herum, unfähig zu sitzen oder zu stehen. Ich sah den Mond, die Sterne, griff nach jedem kleinen Halt, den dieser Himmel mir geben konnte.
Gegen halb eins kam er dann. Leitender Stationsarzt, wie er erzählte, war er früher.
Er stellte nicht nur den Tod fest, er stellte Fragen. Viele Fragen. Fast wie eine Anamnese. Fragen, die ich im Krankenhaus erwartet hätte, von den behandelnden Ärzten. Und er gab mir sogar Hinweise, was eigentlich hätte passieren müssen, welche Schritte bei Mannis Krankengeschichte sinnvoll gewesen wären.
Zwischendurch sprach er offen über das System, über das, was im Hintergrund läuft. Dass in unserem Krankenhaus keine Ärzte mehr an der Spitze stehen, sondern reine Wirtschaftsleute. Dass Profit über Gesundheit geht. Dass Liegezeiten in Kategorien eingeteilt werden, mit dem klaren Auftrag, möglichst die kürzeste zu wählen. Und wenn es gar nicht anders geht, dann landet ein roter Aufkleber in der Patientenakte – ein stiller Befehl zur Entlassung.
Ich hörte ihm zu, und innerlich dachte ich nur: Genau das ist mein Gefühl gewesen. Genau das haben wir in den letzten Wochen erlebt.
So endete diese Nacht: mit der offiziellen Bestätigung von Mannis Tod – und mit dem bitteren Wissen, dass er nicht nur gegen seine Krankheit, sondern auch gegen ein System gekämpft hatte, das längst aus den Fugen geraten ist.
